Der alte Mann (07.11.2006)

Der alte Mann und sein Schatz

Triumfo ist ein kleines ecuadorianisches Dorf ca. eine Stunde Busfahrt von Baños entfernt, einer Stadt am Fuße des im Sommer 2006 ausgebrochenen Vulkans Tungurahua. Hier traf ich zum ersten Mal Don Secundo. Er fiel mir anfangs nicht weiter auf – man stellte ihn uns als einen unserer Führer vor, der uns auf dem 4-tägigen Ausflug in den nah gelegenen Gebirgsregenwald begleiten sollte. 73 Jahre, von etwas untersetzter Statur, war einer der  vier Begleiter, die unsere 11-köpfige Truppe, vor allem Ecuadorianer, in diesem dem Massentourismus noch nicht verfallenem Stückchen Erde sicher zum Ziel bringen sollten. Es verirrten sich zwar nicht allzu Touristen in diesen Teil Ecuadors, aber umso mehr Glücksritter und Schatzsucher. Einer Legende nach soll hier vom letzten Herrscher der Inkas in einem der vielen Seen ein unvorstellbarer Goldschatz versteckt worden sein. Ein letztes Aufbegehren gegen die Habgier der spanischen Eroberer. Es mag sich seit dem viel in der Welt verändert haben, doch zwei Dinge sind auf jedem Fall in den Llangantes gleich geblieben – der urtümliche Wald und die Schatzsucher, von denen einige auch heute noch für immer verschollen bleiben.

Zum Glück ist hier ein Nationalpark errichtet worden, denn noch gefährlicher für die Natur wären wohl die Gold- und Diamantenvorkommen. Viele von ihnen sind Don Secundo bekannt, aber es ist nicht der Schatz, den er beschützt. Es stellte sich schnell heraus, dass der alte Mann voller Überraschungen war. Gleich zu Anfang setzte er sich an die Spitze unserer Gruppe, ausgerüstet mit einer respekteinflößenden Machete in der einen und einem kleinen Benzinkanister in der anderen Hand. Ein alter Armeerucksack komplettierte das Bild. Solange wir noch nicht in den tiefen Wald vorgedrungen waren, schafften wir es mehr oder weniger, das vorgegebene Tempo zu halten. Ausgerüstet mit modernen Wanderrucksäcken, bequemen Wanderschuhen und einer entsprechenden Portion Optimismus keuchten wir dem alten Mann hinterher. Die letzten Anzeichen der Zivilisation, die Kuhfladen, verschwanden nach ein paar Stunden. Der Pfad wurde immer unwegsamer, die Macheten kamen immer öfter zum Einsatz. In einem verzweifelten Versuch, unsere teuren Wanderschuhe zu retten, sprangen wir von einem Stein zum anderen, in der Hoffnung, nicht im Schlamm zu versinken. Unsere Begleiter hingegen marschierten völlig unbeeindruckt mit ihren 5-Dollar-Gummistiefeln geradeaus durch. Völlig ungläubig blickten wir Don Secundo hinterher – wie macht er das und wie will er die ganze Strecke in einfachen Guimmistiefeln schaffen. Aber je dichter der Wald wurde, umso mehr Probleme hatten wir, Don Secundo zu folgen. Und das obwohl er uns den Weg mit der Machete frei schlug! Es ist in der Tat nicht gerade viel, was in solch einer Situation vom Ego eines modernen europäischen Wanderers übrig bleibt. Zumindest anfangs, wenn man auf so ein Bild nicht vorbereitet ist. Glücklicherweise hielten wir ein Tempo, bei dem wir zwischen dem einen oder anderem Keucher und Ausrutscher noch einen Blick auf die Natur riskieren konnten. Und es gab Einiges zu bestaunen. Einen großen Teil des Weges legten wir am Ufer eines donnernden Gebirgsflusses entlang und konnten so ab und zu zwischen den Baumkronen auch die Berge sehen, die uns erwarteten. Und je weiter wir vordrangen, desto mehr passte ich mich dem Verhalten unserer Reiseführer an. Meine Goretex-Wanderschuhe baumelten in ihrem neuen Schlammlook fröhlich am Rucksack vor sich hin. Ich hingegen war gerade dabei herauszufinden, dass man in Gummistiefeln durchaus auch über längere Strecken hinweg wandern kann. Diese Erkenntnis ersparte nicht nur mir das Herumspringen nach der Manier einer wildgewordenen Bergziege. Leider verhinderten auch meine neuen Gummifreunde nicht, dass ich mich stellenweise eher wie ein Pinball fühlte. Das unachtsame Abstützen an einem Baum führte allzu oft zu unangenehmen Kratzern durch die allgegenwärtigen Dornen oder zum auch nicht gerade angenehmeren Brennen, das von einer Vielzahl nicht näher identifizierbarer Pflanzen verursacht wurde. Irgendwann wurde das Gelände so unwegsam, dass selbst unser bis dahin unerschütterlicher Proviantesel das tat, was Esel nun mal tun – er weigerte sich stur weiterzugehen. Also Essensvorräte umgeladen (Don Secundo und die anderen Begleiter teilten sich das Zusatzgepäck) und weiter geht`s. An dieser Stelle werden sich viele Fragen, wieso sich ein Mensch so was freiwillig antut. Nun, ich darf allen versichern, dass sich jeder von uns bei dieser Gelegenheit immer wieder die gleiche Frage gestellt hat. Doch wir wurden mehr als nur entlohnt – in einer fast immer von Nebel umhüllten Gegend hatten wir das unfassbare Glück, ein Naturschauspiel zu erleben, dass man kaum in Worte fassen kann.

Wir errichteten am 2 Tag unser Lager auf  3700 m Höhe und kletterten auf einen Pass über unserem Lager. Der tag neigte sich zu Ende, die Sonne begann unterzugehen. Obwohl Wolken am Himmel waren, hatten wir freie Sicht bis zum Horizont. Denn die eine Wolkenschicht lag wie ein weißes Meer unter uns, einzelne Bergkuppen schauten wie kleine Inseln hervor. Gleichzeitig war die nächste Wolkenschicht so weit oben, dass sie uns nicht störte und das Bild noch schöner machte. Je tiefer die Sonne sank desto orangefarbener wurde der Himmel zwischen den Wolken. Man verspürte den Wunsch, einfach einzutauchen. Selbst die Südamerikaner verstummten bei dem Anblick – und stumme Südamerikaner sind wahrlich ein Anblick für sich. In der Ferne sah man den Chimborazo mit seinen 6300 m stolz und unbeeindruckt über die Wolken hinwegthronen. Die Augen von Don Secundo funkelten, auf seinem Gesicht verharrte ein solch zufriedenes Lächeln, dass ich erneut von diesem Mann überrascht wurde. Er war seit 37 Jahren Bergführer in dieser Region und dennoch noch immer in der Lage, den Augenblick zu genießen. Wahrscheinlich noch mehr als wir. Als Kind las ich viele Abenteuergeschichten und bei fast jeder kam ein älterer Mann vor, der den Helden seine Weisheiten mit auf den Weg gab. Ich kam mir in dem Augenblick nicht als einer dieser Helden vor, aber ich wusste, dass ich das äußerst seltene Glück hatte, eine dieser wertvollen Persönlichkeiten kennengelernt zu haben. Dies erschien mir als der wahre Gewinn der Mühen, die wir auf uns genommen hatten. Ich weiß nicht, wo mich mein weiterer Weg hinführt, aber um es mit den Worten von Don Secundo zu sagen: „Jeder Schritt bleibt letzten Endes ein unvorhersehbarer“. Nicht nur im Dschungel.

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