Tag 1 – Da Rocky (29.10.2011)

Meet the Rocky

Aerodynamik wie ein mittelgroßer Wandschrank  und höchstwahrscheinlich auch ein sehr ähnliches Kurvenverhalten; dank Erstzulassungsjahr 1992 nicht mehr weit davon entfernt, um in Deutschland als Youngtimer durchzugehen; trotz kurzer Karosserie der Wendekreis eines ganz Großen; ein Sicherheitspaket, das von den meisten Waschmaschinen übertroffen wird…

Nun, der Daihatsu Rocky wurde für schweren, täglichen Einsatz konzipiert. Jemand hat ihn mit dem Spruch beschrieben: „Undermotorized, overdesigned – built for eternity“. Dem kann ich nur zustimmen.

Zuallererst sollte man das Einsatzland beachten – Bolivien ist flächenmäßig dreimal so groß wie Deutschland, doch es gibt gerademal ca. 4.000 km asphaltierte Strecken bei ca. 10 Mio. Einwohnern. Der Zustand vieler der Straßen rückt die offiziellen Höchstgeschwindigkeiten von 15 km/h – 80 km/h in ein sehr positives Licht, auch wenn die vielen Kreuze an den Straßenrändern darauf hinzuweisen scheinen, dass diese Meinung nicht von allen geteilt wird. Zum Vergleich: Die BRD wird von einem Straßennetz von 231.000 Kilometern durchzogen (Stand 2009).

In diesem Zusammenhang erscheinen viele Nachteile (bei weitem nicht alle) des Rocky wie weggefegt – bzw. finden sich auf der positiven Seite wieder.

Dank der schmalen Konstruktion ist der Wagen auch für die spontane Eröffnung einer dritten Spur bestens geeignet – und erfüllt damit die (informellen) Anforderungen des bolivianischen Straßenverkehrs. Der Fahrer ist den Konstrukteuren für diese Tatsache zudem auch aus anderen Gründen zum Dank verpflichtet: Die fehlenden Zentimeter in der Breite machen sich nicht zuletzt auch bei Gegenverkehrssituationen auf einspurigen Überlandstraßen mit attraktiven Aussichten (dank 200m-Abhängen) positiv bemerkbar.

Das gutmütige Design ist wie geschaffen für UNICEF; ein Projektverantwortlicher dieser Organisation war tatsächlich der erste eingetragene Besitzer, was wiederum die beruhigende und deseskalierende Lackierung (Friedenstauben-Weiß, Lacknummer 777) erklärt, auch wenn der martialische schwarze Frontschutzbügel eine etwas andere Sprache spricht.

Mit den erreichbaren Geschwindigkeiten liegt man meistens freiwillig im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben – ab 90 km/h werden die Klappgeräusche immer lauter, bei 110 km/h wartet man wie selbstverständlich auf die brennende Spur hinterm Auto und den folgenden Zeitsprung. Sobald aber etwas Gegenwind aufkommt oder das Gefälle endet, findet man sich sofort in seiner eigenen Zeitlinie wieder (und diesseits der 100 km/h). Dies ist ein wichtiger Beitrag zur Sicherheit, denn man gewinnt den Respekt für längst überwunden geglaubte Geschwindigkeitsgrenzen wieder.

Die Federung (hier noch wortwörtlich zu verstehen) führte mich bereits zu der (noch nicht verwirklichten) Überlegung, einen Cocktailbehälter zu installieren – bei Ankunft gibt’s automatisch eine perfekte Mischung für den müden Fahrer. Müde wird man auf jedem Fall, denn die fehlende Servolenkung und die großen Reifen motivieren den Fahrer unglaublich dazu, vor allem beim Ein- und Ausparken, seinen Fitnessstudioausweis zu erneuern. Und das Lenkrad verdient(e) tatsächlich noch den zweiten Teil seines Namens.

Weshalb verdiente? Nun, das ist eine längere Geschichte die uns in die dunkle Unterwelt der bolivianischen Werkstattbesitzer führt. Um sie dennoch kurz zu fassen:

Anfang Oktober 2010 – Auto wird wegen Kurzschluss in der Beleuchtung in der Werkstatt abgeliefert.

Januar 2011 – Anruf, mit stolzer Stimme wird verkündet dass das Auto abgeholt werden kann. Vorwurfsvoll wird hinzugefügt, dass es eigentlich schon Ende Dezember fertig, der Besitzer aber telefonisch nicht erreichbar war. Beleuchtung geht wieder, nur das Lenkrad, die Lenksäule und das Zündschloss mussten ausgetauscht werden.

Freudig hole ich meinen Wagen am nächsten Tag ab. Nach mehreren Monaten Trennung vergisst man das ein oder andere Detail, aber dennoch hatte ich die Lenkräder von Daihatsu irgendwie anders in Erinnerung.

„Jaaa“, erwidert der Mechaniker auf meine Nachfrage hin, „das ist so: Leider konnten wir das Original-Schaltteil nicht finden, aus diesem Grund haben wir ein Lenkrad von Mitsubishi eingebaut…“

 Hier nur mal schnell zur Erinnerung: Karosserie und Innenleben waren vorher von Daihatsu, Motor von Toyota. Ich bin mir nicht sicher, ob ich in diesem Fall über ein Kombiangebot 3 in 1 glücklich sein soll. Aber egal, erst mal das Licht ausprobieren.

Lichtschalter umgedreht, Scheibenwischer angesprungen.

Während ich leicht verwirrt den Bewegungen an der Frontscheibe folge, setzt der Mechaniker erneut an: „Jaaa“, meint er, „das ist so: Leider konnten wir kein Lenkrad nach hiesigem Standard finden, deshalb haben wir ein OOORIGINAL-japanisches eingebaut. Das hat die Schalthebel andersherum.“ Vermutlich betont er das Wort „original“, um mir nachdrücklich klar zu machen, dass ich darüber froh sein kann.

Nun gut, nach drei Monaten nimmt man was man bekommt. Also fahre ich nach Hause und konzentriere mich dabei darauf, das Abbiegen nicht mit dem Scheibenwischer anzukündigen. Dabei merke ich, dass das Lenkrad quietscht. Nun gut, das Auto muss definitiv am nächsten Tag wieder in die Werkstatt.

Neuer Tag. Neues Problem. Da die Werkstatt auf dem Weg zum Büro liegt, will ich noch schnell dort vorbei um das Quietschen zu beseitigen. Doch das Quietschen ist in Kurven nicht der einzige stärende Lärm, plötzlich werde ich von anderen Autofahrern ausgehupt. Der Blick in den Rückspiegel verrät, dass hinter mir keiner fährt. Also sind es die von vorne kommen. Werde ich darauf hingewiesen, dass meine Lichter an- und ausgehen?! Bitte nicht schon wieder ein Kurzschluss. Nein, da ist es wieder, das langgezogene Hupen, nur dass diesmal kein anderes Auto in Sichtweite ist. So langsam formt sich ein Gedanke in meinem Hinterkopf. Ich drehe das Lenkrad nach links…nichts. Ich drehe das Lenkrad nach rechts…BIIIIIIIIIIIIIIIIIIPPPP. Ja, genau, Ihr habt es erfasst: Das Auto hupte bei jeder Rechtsbewegung des Lenkrads. Ich mache mich klein im Fahrersitz während mir die Fahrer aus dem Gegenverkehr erstaunte und wütende Blicke zuwerfen. Bei weitem nicht so wütende wie der Verkehrspolizist, den ich beim Rechtsabbiegen an einer Kreuzung aushupe.  Ich versuche die Situation mit einem gewinnend-entschuldigenden Lächeln zu entschärfen, in Wirklichkeit mache ich es wahrscheinlich nur noch schlimmer. Zum Glück ist er nicht motorisiert und ich hupend hinter der nächsten Kurve verschwunden. Die in der Werkstatt nehmen das Ganze mit Humor, ich in dem Augenblick eher nicht.

Ein paar Wochen später finde ich endlich einen richtig guten Mechaniker. Die Bedeutung dieses Satzes ist Menschen, die nie in Bolivien lebten und ein Auto besaßen, nur schwer vermittelbar. Eigentlich werde ich auch viel mehr ihm von einem Freund vorgestellt. Denn in Bolivien ist es mit guten Mechanikern wie mit guten Zahnärzten: Man (als Kunde) kommt nur mit einer Empfehlung an sie heran. Seit dem schnurrt der Motor; und ich in gewisser Weise auch.

Doch zurück zu den Vorteilen: Trotz des großen Wenderadius ist der Wagen relativ leicht zu parken – dank kurzer Karosserie, großer Fenster und schnörkelloser, eckiger Bauweise hat der Fahrer eine für heutige Autos, zumindest ohne Big-Brother-zertifizierte Hilfsmittel, unerreichbare Übersicht.

Der Verbrauch des 2,2-Liter-Benziners ist mit 16 Litern (Stadt;10-11 Liter Überlandstraße) für in Bolivien zugelassene Fahrzeuge moderat, wobei er in Europa so manche Oberklassenlimousine wie ein Sparwunder aussehen lässt.

Der Kofferraum folgt dem Prinzip des Minimalismus und ist auf den ersten Blick daher eher als Gepäckfach zu bezeichnen. Dennoch hat er eine große Kühlbox, drei mittlere Wanderrucksäcke und Essen für sechs Personen für 2 Tage aufgenommen.  Auf dem Dachgepäckträger könnte zudem ein kleinerer Hubschrauber eine Notlandung vollbringen.

Die Straßenausleuchtung der Standardlampen wurde von den Ingenieuren optimal auf die erreichbaren Geschwindigkeiten abgestimmt; hier hilft die Halogenscheinwerferbatterie, die ohne weiteres einen Konzertsaal beleuchten könnte. Zudem können die hinteren Lichter dank der jeweils drei freiliegenden Schrauben praktischerweise leicht ausgewechselt werden – was im Mai 2010 höchstwahrscheinlich ein zufriedenes Lächeln auf die Gesichter einiger Diebe zauberte. Beim Mechaniker hingegen, der im Nachhinein konsultiert wurde, wechselte die Gefühlsskala beim Anblick des fehlenden Rücklichts von „Unglauben“ zu „unkontrollierter Lachanfall“.

Der Wagen verfügt auch über eine zufallsbasierte Zentralverriegelung, wobei das „Zentral“ eine unbestätigte Vermutung des Autors ist. Das Prinzip konnte auch nach mehreren Monaten noch nicht nachvollzogen werden – Untersuchungen dauern an.

Die Reste eines Aufklebers lassen den Schluss zu, dass der Wagen früher über eine Alarmanlage verfügte. Es kann nur vermutet werden, ob sie mit der Melodie „Eye of the tiger“ programmiert wurde; doch bei dem täglichen Alarmanlagenkonzert in La Paz wäre dies ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal. Die Überreste des Sicherheitssystems ließen den Fahrer beim Anlassen des Autos zudem wie einen Dieb aussehen, der mal eben ein paar Kabel unterm Lenkrad zusammenschließt. In Wirklichkeit drückte man einen (sehr) kleinen Knopf; beim dreimaligen Anlassversuch ohne die notwendige Gymnastik hatte man ein geringfügiges Problem – nur eine Werkstatt pro Großstadt konnte den Wagen wieder entsperren. So überlegt man es sich drei Mal, ob es eine gute Idee ist, betrunken den Wagen anzulassen und dabei den Knopf zu verfehlen. Dieses Problem konnte mit Hilfe des neuen Mechanikers beseitigt werden.

Sowieso stellt das Radio die fortschrittlichste Elektronik an Bord dar. Inzwischen ist sogar ein modernes Gerät mit USB-Anschluss eingebaut; das frühere Modell schaltete sich beim Umschalten auf Kassettenbetrieb einfach ab. Was ESP & Co. angeht: Fehlanzeige.

Doch damit ist eine Reparatur auch ohne die Ressourcen des Supercomputers HAL 9000 möglich-  und ganz nebenbei sinkt die Wahrscheinlichkeit, von einer verwirrten künstlichen Intelligenz umgebracht zu werden – das gibt ein Plus bei Sicherheit; im Grunde reichen Schweißgerät, Hammer und Schraubenzieher, in den meisten Dörfern verfügbar, vollkommen aus.

Wenn wir schon bei der Sicherheit sind: Die AAA-Komplettausstattung (Anti-Airbag-ABS) führt dazu, dass man im „Jesus is my airbag“-Fahrzeugaufkleber plötzlich einen tieferen Sinn entdeckt – das wiederum spiegelt sich in einem Plus bei Spiritualität wider.

Die Stoßfänger, die nicht in die Karosserie integriert und lackiert sind, resultieren in einem Auto zum Anecken; sie machen zudem die fehlende Ausparkhilfe entbehrlich.

Der Versicherungsfachmann hat bei der Inspektion ein Häkchen bei „Navigationssystem vorhanden“  gemacht – eine angestrengte Suche führte im Nachhinein zu der Schlussfolgerung, dass damit der (defekte) Neigungsmesser gemeint war.

Vorfahrt eingebaut – gemäß (erneut informellen) bolivianischen Vorfahrtsregeln erfüllt das Auto einige Voraussetzungen hierfür – bei zwei auf die Kreuzung zufahrenden Fahrzeugen entscheiden mehrere Faktoren darüber, wer die Überschneidung von zwei oder mehreren gleichrangigen Verkehrswegen als erster (und lebend) überquert:

-          Geschwindigkeit – jede zusätzliche 10 km/h auf dem Tacho untermauern den Anspruch – hier hat der Rocky gewisse Nachteile

-          Lautstärke – je lauter man sich bemerkbar macht, desto höher die Chancen – ein Plus bei Motorengeräuschen für den Rocky, ein großes Minus aufgrund der anfangs defekten Hupe

Doch der Rocky kann in den wichtigsten Kategorien punkten:

-          Entscheidender Vorteil: Das „Ich-habe-weniger-zu-verlieren“-Aussehen – hier holt das Auto dank Zulassungsjahr 1992, einem Anschaffungspreis von 3.700 USD und geringen Reparaturkosten die meisten Punkte

-          Weiße Lackierung und kantiges Design können bei einem flüchtigen Blick zu der falschen Annahme führen, es handle sich um ein offizielles Fahrzeug. Dies führte schon mal zu der absolut ernstgemeinten Frage im Rahmen einer Verkehrskontrolle, zu welchem Ministerium ich den gehören würde.

Kurzum: Ich liebe dieses Auto.

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