Die Gletscherspalte (01.01.2008)

01.01.2008, 2 Uhr: Ein X im Schnee

 

„Langsam laufen. Rhythmus einhalten…Langsam laufen. Rhythmus einhalten.“ Ich wiederhole den gleichen Gedanken immer wieder. Meine Kopfleuchte duchdringt mit ihrem bläulichen Licht nur mühsam die Dunkelheit und holt das Seil aus der Schwärze, das mich mit meinem Guide verbindet. Dann beleuchtet es erneut meine Begstiefel mit den Steigeisen, mit denen ich schwerällig wie ein Austronaut durch den Schnee stampfe. In der Ferne strahlen die Lichter von La Paz wie ein riesiger, orangenfarbig flackernder Teppich. Auf der anderen Seite werden die Wolken immer wieder von Blitzen erhellt. Ich konzentriere mich wieder.  „Langsam laufen. Rhythmus einhalten“. Plötzlich fällt das Licht auf ein im Schnee gemachtes X. „Ein X? X? Weshalb zum Teufel malt denn jemand ein X in deeeeeeee“ – meine Frage wird schneller beantwortet als mir lieb ist. Kein verräterisches Knirschen, kein letzter verwunderter Blick. Plötzlich und unspektakulär wechselt die Perspektive. In Bruchteilen von Sekunden breche ich in die Gletscherspalte ein. Ich bin ja nun auch so nicht allzu groß, aber jetzt sind nur noch der Kopf und die Schultern von mir zu sehen, währed meine Beine erfolglos nach Halt suchen. Aus so großer Nähe muss ich den Schnee auch nun wieder nicht bewundern.  Reflexartig schaffe ich es noch im Fall meinen Eispickel in den Boden zu rammen. Glücklicherweise reagiert auch mein Guide schnell genug und stämmt sich gegen das plötzlich auftauchende Zusatzgewicht. Allerdings hätte ich mir im Nachhinein schon eine etwas aktivere Kommunikationspolitik seitens meines Bergführers gewünscht. Vielleicht hätte ich mich unter anderen Umständen auch an die vielen Trickfilme (die ich nur früher als Kind geschaut habe, versteht sich) und vor allem an die Tatsache erinnert, dass dort die Fallen immer mit einem X gekennzeichnet werden. Und dann wäre ich um die Stelle herumgelaufen. Aber in 5400 m Höhe um 2 Uhr nachts reagiert man nicht mehr so selbstverständlich wie unter normalen Bedingungen. Ich ziehe mich am Pickel aus dem Loch. Mein Bekannter und sein Guide, die nur wenige Meter vor uns laufen, bekommen davon nichts mit. Die Dunkelheit verschlingt scheinbar nicht nur das Licht, sondern auch Geräusche und Geschehnisse. „Alles in Ordnung?“, fragt mich der Guide. Ich nicke und laufe weiter. Dieser Vorfall soll mich später noch einiges kosten. Es beginnt damit, dass ich meinen Rhythmus nicht mehr wiederfinde.

 

01.01.2008, ca. 2:20 Uhr, 5430 m

Ich sinke in den Schnee. Ich kann den Würgreflex nicht mehr kontrollieren. Ich markiere die Strecke auf eine eher ungewöhnliche und unangenehme Art und Weise. Unangenehm vor allem für mich – ein eindeutiges Zeichen für die Höhenkrankheit. Während ich im Schnee zusamengekauert liege, erinnere ich mich, wann die ersten Anzeichen zu beobachten waren. 14 Stunden zuvor hatten wir das Höhenlager „Rock Camp“ in 5130 m erreicht, bereits da hatte ich Kopfschmerzen.

Vielleicht lag es daran, das wir die für den Weg von der als Basislager (4700 m) dienenden Berghütte in nur 1 Stunde und 40 Minuten zurückgelegt hatten. Zuvor gaben unsere Guides die Entferung mit 2,5 (die Schnelleren) bis 3 Std. (die Langsameren) an.

Vielleicht auch an der Tatsache, dass mein Rucksack nicht gerade sparsam gepackt war – das Stativ hätte man rechtfertigen können, aber wofür ich das Deo in die Berge mitgeschleppt hatte, wird mir wohl für immer ein Geheimnis bleiben.

Vielleicht vertrage ich aber auch die Höhe ab 5000 m nicht, denn mein Bekannter zeigt keinerlei Symptome.

Vielleicht hätte ich vorher auch trainieren sollen – denn direkt aus dem Büro auf einen 6088 m hohen Berg ohne Vorbereitung – klingt auch nicht gerade nach einem durchdachten Plan (wahrscheinlich fügt sie sich nahtlos in die Top-Five-Liste meiner „besseren“ Ideen). Vielleicht hätte ich auf den Schluck Neujahrssekt in 5130 m verzichten sollen.

Vielleicht habe ich die Tablette gegen die Höhenkrankheit an sich nicht vertragen.

Es sind viele „Vielleichts“, bringt aber alles nichts. Konjunktive helfen mir jetzt auch nicht mehr.

Ich hebe mich schwerfällig aus dem Schnee und laufe weiter in Richtung der ersten steileren Stelle. Nur 30 Höhenmeter mit 50 Grad Neigung.

Knapp zwei Tage zuvor hatte ich sogar meinen Spass dabei, während der Übungen eine knapp 90 Grad steile Wand hochzusteigen. Aber das war in angenehmen 4700 m. Wir hatten an dem Tag am Gletscher wohl genug Eis mit unseren Steigeisen und Eispickeln zerkleinert, um damit eine Nacht lang sämtliche Bars von La Paz zu versorgen.

Doch nun ramme ich schwerfällig mein Eispickel in die Wand und stütze mich mit meinen Steigeisen ab. Nur 30 m, aber in meinem Zustand muss ich inzwischen alle paar Meter eine Pause machen. Ich hänge am Eispickel und versuche wieder Luft zu bekommen.

01.01.2008, ca. 2:45 – 4.30 Uhr

An den weniger steilen Stellen ist es nicht viel besser. Inzwischen falle ich kraftlos alle 50-60 m in den Schnee. Manchmal auf die Seite, andere Male auf den Bauch, manchmal auf die Knie. In den seltensten Fällen schaffe ich es, mich auf dem Eispickel abzustützen. Dann sehe ich wohl wie ein Betender aus. Ab und zu lasse ich mich auf den Rücken fallen und kann dann wenigstens die Sterne beobachten. Schlafen, nur ein paar Minuten, der Wunsch kommt immer wieder. Doch noch kann ich klar genug denken. Zudem zieht der Guide dann immer wieder am Seil um mich in die Wirklichkeit zurück zu holen. Die Beine werden weich, der Magen schmerzt. Eine Frage wiederholt sich: wie soll ich das in dem Zustand schaffen. Auf 5740 m muss ich mich erneut übergeben. Noch 348 Höhenmeter – klingt nicht nach viel, für mich ist es aber inzwischen eine Ewigkeit. Die beiden anderen sind inzwischen weit vorne, ich werde wohl nicht der erste Europäer im Jahr 2008 auf dem Huayna Potosí sein. Inzwischen haben uns auch der Südafrikaner mit seinem Guide eingeholt, ihre LED-Leuchten kamen unaufthaltsam näher. Also werde ich wohl auch nicht der zweite Ausländer auf der Spitze 2008. Mein Bergführer schaut mich besorgt an und stellt die unausweichliche Frage: „Sollen wir umkehren?“ Ich ziehe mich quälend langsam am Eispickel hoch und keuche eher unüberzeugt: „NOCH NICHT!“ Ich schleppe mich den anderen hinterher, sowohl physisch als auch psysisch. Die Motivation, die von Leuten ausgeht, die vor einem laufen, kann kaum überschätzt werden. Und von ihren Worten, dass wir es schaffen werden. Irgendwann sehe ich die Leuchten des führenden Paars wieder, weit oben. Ich frage meinen Guide, wie viel ihnen noch zum Gipfel fehlt. „30 Höhenmeter, sie haben es fast geschafft“, lautet seine kurze Antwort. Aber diese wenigen Worte lösen in mir eine Trotzreaktion aus – ich werde es wohl nie erklären können, weshalb, aber genau in diesem Augenblick war ich mir sicher, dass ich es bis nach oben schaffe. Notfalls kriechend – was an vielen Stellen der Realität wohl sehr nahe kam. Ich werde weder meinem Guide noch den beiden, die uns eingeholt hatten, jemals die Schuld zurückzahlen können. Am Ende haben sie mich bis nach oben gezogen, wenn nicht wortwörtlich, dann wenigstens mental.

01.01.2008, ca. 5 Uhr

Irgendwann kurz nach Fünf Uhr erreichen wir die Bergspitze – ich würde an dieser Stelle gern schreiben, dass ich stolz in Siegerpose auf dem Gipfel stand. Stattdessen sank ich wie ein Sack Kartoffeln zusammen und rang erneut nach Luft. Die Aussicht war grandios, aber die wenigen Fotos die ich machen konnte geben meinen Zustand ganz gut wieder. Verschwommen, unscharf, unausgeglichen. Mein Minstativ blieb in meinem kleinen Rucksack, den ich für den Weg vom Höhencamp mitgenommen hatte. Der Rucksack liegt nun aber dummerweise ein paar Hundert Meter tiefer. Ich war so am Ende, dass selbst ca. 1 Kilo Zusatzgewicht über Erfolg und Niederlage entscheiden konnten.

Als die Sonne langsam empor steigt, wird uns klar, was wir für einen Weg hinter uns haben. Stellenweise war es nur ein 20-30 cm breiter Pfad im rutschigen Frischschnee. Ein Schneesturm, begleitet von elektrischen Entladungen, zwang am Tag zuvor eine Gruppe zur Umkehr. 40 Höhenmeter vom Gipfel entfernt wurden sie von den Winden und Blitzen zum Rückzug gezwungen. Uns hingegen erschwerte die Schneeschicht nur leicht den Auf- und Abstieg. Na ja, wenigstens falle ich immer ziemlich weich.

Die Nacht hatte am Ende auch ihren Beitrag zu meinem persönlichen Erfolg beigetragen – hätte ich von Anfang an gesehen, wie lang und anstrengend der Weg ist, wäre meine Antwort 348 Meter tiefer wohl anders als „NOCH NICHT“ ausgefallen.

01.01.2008, 6:00 Uhr

Ich bitte meinen Guide, den Rückweg antreten zu können. Wahrscheinlich die erste vernünftige Idee meinerseits in den letzten 12 Stunden. Mir schwankt schon, dass es nicht unbedingt angenehm wird. Die LED-Lampe wird gegen meine Sonnenbrille getauscht. Wir laufen schneller, aber der Weg ist keinesfalls leichter. An einer der 20 cm Stellen muss ich mich erneut übergeben. Ich liege da und hänge am Eispickel. Plötzlich verlieren meine Füße den Halt – und erneut sind es der Eispickel und mein Guide, die mich vor schlimmeren bewahren. Noch zwei weitere Male werde ich auf dem Rückweg zusammensinken (die vielen „fruchtlosen“ Pausen nicht mitgezählt)– zuletzt 20 m vor dem Höhencamp, wo wir kurz pausieren, um unsere großen Rucksäcke für den Rückweg zusammenzupacken. Der Weg von hier ist fast noch gefährlicher. Wir laufen ohne Steigeisen, aber die dünne Schneeschicht auf den nassen Steinen birgt ein gewisses Adrenalinpotential. Gegen 11 Uhr erreichen wir schließlich das Basiscamp, von wo wir kurze Zeit später von einem Taxi abgeholt werden.

Trotz allem war es wohl eins der wichtigsten Erlebnisse in meinem Leben – und definitiv der ungewöhnlichste Silvester, den ich jemals hatte. Jemand meinte, dass bei der Besteigung des Huayna Potosí 70 Prozent vom Kopf, 30 Prozent vom Körper abhängen. Vielleicht ist es besser zu sagen, dass 10 % vom Rhythmus, 20 % von der Kondition und 70 % von der Psyche abhängen. So war zumindest meine persönliche Erfahrung. Zudem würde ich von der Aussage Abstand nehmen, dass es leichte 6000er gibt. Er war mit Sicherheit technisch leicht, aber der Sauerstoffgehalt beträgt dennoch nur knapp 47 % des Meeresniveaus. Würde man (ach, diese Konjunktive) direkt vom Meeresniveau auf den Gipfel geflogen, würde man praktisch sofort die Orientierung verlieren. Nach 10 Minuten das Bewusstsein. Nach 30 Minuten höchstwahrscheinlich auch das Leben.

Ich will keinen von dieser Tour abhalten, sie lohnt sich alle mal. Vor allem wenn man nicht krank wird. Es ist eben ein weniger schwerer 6000er, aber weder einfach noch leicht. Was nichts an der Tatsache ändert, dass viele Touristen es schaffen, ihn zu besteigen.

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